Es war kalt. Wir wurden gefordert und gefördert, getäuscht und enttäuscht, im Kleinen und Grossen überrascht.

Tag 1, Ankunft
Wir rannten. Der Begriff "Olympiade" wird grundsätzlich mit athletischen Aktivitäten in Verbindung gebracht, aber es war nicht das, wofür wir angereist waren. Der verspätete Flug von London her ermunterte uns aber trotzdem, etwas sportlichen Eifer zu zeigen. Leider vergebens, denn wir mussten uns trotzdem auf den nächsten Flug umbuchen lassen. Solche Fehlschläge konnten unseren eisernen Siegeswillen aber nicht schwächen, und so betraten wir voll Zuversicht den Ort des Geschehens.

Am Flughafen wurden wir warm begrüsst von Matome, dem Guide des Schweizer Teams. Nach etwas Suchen konnte auch der Guide des Lichtensteiner Teams ausfindig gemacht werden und wir konnten in die Reisebusse zu unser Lagerstätte gefahren werden: Die Universität von Kapstadt. Wir kehrten in die dortige Studentenunterkunft ein, erhielten sogar Einzelzimmer und hatten kaum Probleme mit dem etwas ungewohnten Schlössern unserer Zimmertüren. Glücklicherweise war es Juli, denn in Wintermonaten hätten wir die Abwesenheit von Heizungen wohl als unangenehm empfunden. Nachdem also jeder sein Zimmer chaotisch verwüstet hatte, oder wie man so schön sagt "die Koffer ausgepackt" hatte, trafen wir uns fürs Abendessen. Wir hatten uns schon auf nie gesehene exotische Früchte, mysteriöse Tierprodukte und unbekannte Getreidesorten bereit gemacht, aber es gelang ihnen trotzdem uns zu überraschen: Es gab Würste und Kartoffelbrei. Danach streunten wir nicht mehr all zu gross herum, sondern vereinbarten einen Treffpunkt für den nächsten Tag und legten uns schlafen.

Tag 2, Eröffnung
Wir warteten. Ziemlich lange Zeit sogar. Sehr lange Zeit. Natürlich ist es schlau, die lokale Währung vor Ort zu tauschen, weil man dort bessere Tauschraten erhält, aber dabei sollte man nicht vergessen, dass sich mehrere hundert schlaue Leute vor Ort versammelt hatten. Obwohl (oder weil?) wir bereits am Morgen zur nächsten Bank aufbrachen, dauerte es über eine Stunde bis jeder den Betrag in Rand hatte, den er wollte. Wir hatten sogar genug Zeit um Mittagessen einzukaufen, da wir vorhatten, den Hügel (manche nannten ihn auch "Berg") hinter dem Kampus zu besteigen.

Zu spät realisierten wir, dass das Geldtauschen so lange dauerte, dass wir auch auf dem Kampus hätten speisen können. Wir machten uns also erst zur Mittagsstunde auf zu unserem Spaziergang. Unterwegs begeneten wir den anderen Teams, die am Morgen auf dem Hügel waren und jetzt für das Mittagessen zurückkehrten. Immerhin konnten wir auf dem Rhodes-Memorial die schöne Aussicht und das gute Essen geniessen. Die meisten Teams schienen hier umgekehrt zu sein, weil die geteerten Strassen hier enden, aber wir strebten nach Höherem. Dass wir dafür einen schmalen Trampelpfad durch
das Gestrüpp erklimmen mussten, wussten wir natürlich erst im Nachhinein. Dass der Trampelpfad kurz vor dem Gipfel an einem Maschendrahtzaun enden würde auch. Trotzdem war es recht nett, einmal von ganz oben auf die Stadt hinunter zu sehen (auch wenn der Stehplatz zwischen Gebüsch und Zaun nicht ganz ideal war).

Am Abend stand die Empfangszeremonie auf dem Programm. Lagerfeuer und Trommler erschufen vor der Halle eine stimmungsvolle
Atmosphäre, aber ich machte mir keine Illusionen über das was anstand: Langes bla-bla, viel klatsch-klatsch, zwei Minuten für uns auf der Bühne und nochmals klatsch-klatsch für alle anderen Teams. Derart vorgewarnt verlief der Abend ohne nennenswerte Überraschungen. Wir gingen nochmals ganz brav früh schlafen, da der grosse Tag bevorstand.

Tag 3, Erste Prüfung
Wir warteten. Diesmal nicht so lange, und wir konnten den Prüfungsaufsehern zuschauen, wie sie geschäftig zwischen den Pultreihen hin und her wuselten um dieses und jenes noch zu regeln. Bald mussten sie ihr geschäftiges Wuseln einstellen, da es Zeit war, die Prüfung zu beginnen. Vorne erklärte
uns einer mit dem Mikrophon nochmals geduldig die Verhaltensregeln während der Prüfung und was wir machen müssen, falls es an Papier mangelt, wir Wasser möchten, einen medizinischen Notfall haben oder auf die Toilette müssen. Dann durften wir die Umschläge öffnen...

Es ist immer wieder erstaunlich, wie kurz dass viereinhalb Stunden im Grunde genommen sein können. Kaum hat man die entscheidende Idee, heisst es schon wieder abgeben. Nach der Prüfung tümmelten die Teilnehmer vor dem Gebäude herum auf der Suche nach ihren Teammitgliedern. Wir hatten uns zwar untereinander sehr bald gefunden, aber es schien so, als ob sich unsere Deputy Leader nicht die Mühe gemacht hatten, uns abzuholen. Traurig trotteten wir zu Tische um uns mit Mittagessen, abzulenken. Während wir speisten und über die Aufgaben philosophierten, tauchten dann auch unsere Leiter wieder auf. Der Nachmittag stand zur freien Gestaltung frei, also nutzten wir unsere Zeit, um unsere Fertigkeiten mit Kartenspielen aufzupolieren. Die restlichen neunzehneinhalb Stunden des Tages vergingen beinahe so schnell wie die entscheidenden viereinhalb.

Tag 4, Zweite Prüfung
Und wieder sassen wir in den Gemächern der... des... nun ja, in der ungeheizten Turnhalle eben. Vorne erklärte uns einer mit dem Mikrophon nochmals geduldig die Verhaltensregeln und wies uns insbesondere darauf hin, dass wir mit schwarzer oder dunkelblauer Tinte klar und deutlich und leserlich und schön schreiben sollten. Der Startschuss fiel, so kam es mir vor, fast gleichzeitig mit dem Schlussgong. Manchmal habe ich ja den Verdacht, dass ein kleiner Zeitdämon die wichtigen Stunden während Prüfungen einsammelt und irgendwann während Eröffnungsfeiern und Schlusszeremonien wieder ausstreut. Jedenfalls strömten schon wieder alle aus der kühlen Halle ins Sonnenlicht heraus und plapperten aufgeregt über ihre Taten. Diesmal holten uns die Deputies ab und wir durften zum ersten Mal auch unsere Leader treffen. Während für uns die Arbeit getan war, fing sie für die anderen erst an: Sie durften korrigieren.

Nun, ungeachtet dessen verbrachten wir den Nachmittag wieder mit dem, was wir tags zuvor einstudiert hatten: Kartenspielen.

Tag 5, Ausflug
Es war einer von jenen Momenten, in denen der Zeitdämon seine angestaute Zeit wieder herausgibt. Nun zumindest war die Aussicht, die ich aus dem Carfenster sah, ganz hübsch. Es war ganz schön zu sehen, dass das Kapmassiv aus aufgestiegenen Sedimentgesteinen, die etwa der gleichen
Sorte unserer nördlichen Alpen entsprach, bestand, aber irgendwie gelang es mir nicht, die anderen für dieses Thema zu faszinieren. Deutlich mehr Faszination zogen die Einwohner unseres ersten Reiseziels an: die Südafrikanischen Kappinguine. Wie etwas, das mit einer riesigen, zeitlich limitierten Reisegruppe vergleichbar ist, drängten wir aus den Bussen zu den Pinguinen, in die Souvenierläden und wieder in die Busse zurück. Die klischetierte Pünktlichkeit der Schweizer zeigte sich, als zur abgemachten Zeit, als Einziges das Schweizerteam im Car sass.

Als nächstes wurden wir in eine Ortschaft gefahren, deren Name ich entweder vergessen oder nie erst gekannt habe. Dort wurden wir in einer Sporthalle zusammengedrängt und während des Mittagessens von lokalen Talenten unterhalten, wobei wir erfuhren, dass die dortigen Tontechniker nicht dazugehörten. Jedenfalls wurden wir satt an das letzte Ausflugsziel gefahren: den Nationalpark und das südwestlichste Ende des afrikanischen Kontinents. Zwar konnten wir nicht ausmachen, wodurch das südwestlichste Ende eines Kontinents sich auszeichnet, aber da es ein grosses, mehrsprachiges Schild hatte, das uns darauf hinwies, wussten wir zumindest, dass es von Bedeutung sein muss. Ehrfürchtig, aber durch den Reiseleiter zur Eile geboten, zogen wir schnell heraus, um einige Fotos zu schiessen und kehrten wieder nach Kapstadt zurück.

Tag 6, Vorträge
Alle quatschen gemütlich. Langsam ersterben die Gespräche, als der vortragende Professor auf die Bühne tritt und ein leises Raunen geht herum, als man erkennt, wer da vorne gleich einen Vortrag halten wird. Zumindest stellte ich mir das ungefähr so vor, denn zu diesem Zeitpunkt sass ich etwa zwei Strassen entfernt davon, mit den anderen Teammitgliedern und spielte Karten. Natürlich ist es eine grosse Ehre, wenn wichtige Mathematiker von weit her anreisten, um interessante Vorträge zu halten, aber da das erwartungsvolle Zuhören meist allzuschnell in konzentriertes Wachbleiben übergeht, haben wir entschieden, uns für den Nachmittag vorzubereiten, der "African Games" versprach. Tatsächlich stellte sich aber heraus, das wir mit den falschen Mitteln geübt hatten, das Spiel Morataraba wird mit Steinen und nicht Karten gespielt. Es entspricht etwa dem Spiel, dass hier unter dem Namen Mühle bekannt ist, nur wird es mit mehr Steinen und mehr Linien gespielt. Nachdem wir festgestellt hatten, dass wir falsch vorbereitet waren, zogen wir uns zurück, um unser eigenes Spiel zu erschaffen. In den alten Gemäuern der Universität riefen wir das Spiel, dessen Name nicht genannt werden darf, ins Leben. Anfangs war uns nicht bewusst, wie es enden würde. Wer hätte gedacht, dass der linke Fuss so nützlich sein würde? Wer hat den Tisch so
unnötig hoch gebaut? Wer weiss die Spielregeln noch?

Nach dem Abendessen kam der spannendste Teil für uns: wie hoch werden die Medalliencuts angesetzt? Wir sassen zusammen und warteten darauf, dass die Leader ihre Konferenz beenden. Vor allem die anderen wurden nervös, da sie an der Kante standen, ich hatte mit meiner Punktzahl Bronze gegen unten, wie oben genug abgesichert. Die Jury diskutierte schon um einiges länger als geplant, als Dimitri uns endlich Resultate lieferte. "So wis usgseht," begann er, unschuldig und nebensächlich bemerkend, "sind Cuts bi 17 und 23 Pünkt." Das war schockierend. Drei Leute hatten 16 Punkte, zwei hatten 22 Punkte. Fünf Leute hatten einen Punkt zu wenig. Das war enttäuschend. Das war deprimierend. Der Stimmungsbarometer schwenkte von Aussichtsvoll auf Niederschlag. Keinem war mehr nach Kartenspielen zu Mute. Als wir uns damit abzufinden begannen, dass wir fünffach knapp abgeblitzt sind, bemerkte Robert plötzlich, dass die offizielle IMO-Seite etwas anderes meinte: Bronze ab 16 und Silber ab 22 Punkten. Wieder schlug der Stimmungsbarometer heftig um und die Energielosigkeit, die noch Sekunden zuvor geherrscht hatte, war verschwunden. Jeder Schweizer hatte eine Medaille. Jeder Schweizer hatte eine Medaille! Ein Rekord! Die erste Silbermedaille für Liechtenstein! Zwei Rekorde! Die Grabesstimmung war verflogen. Es war Zeit zum Feiern!

Tag 7, Stadtbummel
Wir spazierten. Gemütlich, am Deich entlang, das Meer vor uns. Ein halbtägiger Ausflug im Hafenviertel zum Einkaufen, Spazieren, Aquarien besuchen, Entspannen. Wir nutzten die Zeit um - nun ja, spazieren, einkaufen, Aquarien besuchen und entspannen zu können. Wir trafen auf Statuen der vier südafrikanischen Friedensnobelpreisträger, prägten uns die weisen Worte "Nmuntu Ugmuntu Ugabantu" ein (von denen ich jetzt noch nicht weiss, was sie bedeuten), diskutierten das Nicht-so-Riesenrad, kauften reich verzierte Blasinstrumente, bestaunten Fische und Pinguine, erinnerten uns plötzlich der Postkarten, die noch zu schreiben wären, und machten uns auf eine Einkaufsodyssee. Schon war es Abend, und schon war die Abschlusszeremonie. So ganz spontan begegneten wir einem Berner Professor, der in Kapstadt unterrichtet, nicht ganz so spontan aber doch ziemlich unerwartet tauchten Thimotées Eltern auf, und völlig spontan, unvorhergesehen und kausal nicht zusammenhängend erhielten wir die Schweizerfahne zurück, die uns im Vorjahr in Kolumbien entwendet wurde. Bei weitem besser voraussehbar war das, was wir sonst noch an diesem Abend erhalten haben, nämlich 4 bronzene und 3 silberne Medaillen. Es wurde viel geklatscht, viel fotografiert und vor allem viel geredet. Danach gab es einen heiteren Abschlussapéro.

Tag 8, Heimkehr
Wir standen herum. Es war Zeit, Abschied zu nehmen von jenen, die abreisten, weiterreisten. Unser Flug ging erst um drei Uhr, also lungerten wir noch ein bisschen herum. Wir entschieden, in der Stadt Mittagessen suchen zu gehen. Nach etwas Suche stiessen wir auf einen Boeri-Laden, und da keiner von uns wusste, was ein Boeri ist, schien es eine gute Idee, ihn zu betreten. Es stellte sich heraus, dass ein Boeri eine Art Hot-Dog ist, nur benutzt man anderes Fleisch, andere Sossen und anderes Brot. Wir verliessen den Laden, ohne viel besser zu wissen, was einen Boeri nun genau ausmacht, aber immerhin waren wir satt. Es ging auch schon auf drei Uhr zu, also machten wir uns auf den Weg zum Flughafen.

Das wars. Die IMO 2014 war vorüber. Es war schon kühl, aber hier ist es kaum wärmer. Klar es war manchmal streng, aber Spass machte es allemal. Ich frage mich heute noch, ob Dimitri die Cuts bereits wusste oder nicht. Und die Schweizerfahne kam echt unerwartet. Aber die guten Leistungen nicht. ;)