Am Vorabend überprüfte ich nochmals mein Gepäck – besondere Vorbereitung war geboten, denn ich brach auf in ferne Lande – dann machte ich mich auf die Reise zur MEMO 2012 in Solothurn. Wie geplant trafen dann die Mitglieder unseres Teams um drei Uhr in Solothurn ein, und zwar fast vollständig. Bestürzt stellten wir fest, dass Johannes abhanden gekommen schien – hatten wir ihn auf der Durchreise in einem fremden Land liegen gelassen? Mussten wir den Wettbewerb mit nur fünf Teilnehmern bestreiten? Glücklicherweise ist es ihm aber gelungen, sich an diesem unvertrauten Ort mit seinen Deutsch- und Englischkenntnissen durchzuschlagen und mit dem nächsten Zug einzutreffen. Mit frisch gefasstem Mut machten wir uns also auf zu unser Herberge.

In der Herberge wurden wir freundlich begrüsst, das Komitee hatte sich sogar die Mühe gemacht, eigens dafür unsere Landessprache zu studieren und daher fühlten wir uns, wenn man vom Akzent absah, fast wie zuhause. Die lange Reise hatte nicht nur uns sondern auch die anderen Teams erschöpft, sodass an jenem Tag nur die Vorstellung der Teams stattfand. Um die Atmosphäre aufzulockern wurde jedem Land aufgetragen, einen Zungenbrecher in ihrer Sprache zu präsentieren, und mir fiel die zweifelhafte Ehre zu, den Satz mit dem religiösen Führer und den Essutensilien vorzutragen – die Wiederholung des Publikums bestand lediglich aus dubiosen „schp“ und „bsch“ Lauten mit zufällig eingestreuten Vokalen. Auch die anderen Teilnehmer kannten schwer aussprechbare Wortkonstellationen die ebenso kompetent vom Publikum wiederholt wurden. Alles in allem entstand eine angenehme, freundschaftliche Atmosphäre zwischen den Jungmathematikern, die sich über die ganze Woche hielt. Die Begrüssung wurde mit einer lokalen Spezialität beendet, der köstlichen Solothurner Torte. Am folgenden Tag war das Wetter schön und noch hatte niemand Lust, stundenlang an schwierigen Problemen den Kopf zu zerbrechen, daher wurde ein kollektiver Stadtbummel veranstaltet. Von Einheimischen wurden wir in die dunkelsten Geheimnisse dieser unschuldig wirkenden Ortschaft eingeweiht: Von der Legende über die Kathedrale über die Geschehnisse im Wachturm bis zur Bedeutung der Zahl Elf. All diese Informationen mussten natürlich verdaut werden, ebenso das reichhaltige Mittagessen, und das Wetter blieb gut, sodass der Rest des Tages zur individuellen Gestaltung freigegeben wurde. Manche spielten Kartenspiele, manche gingen die Theorie noch ein letztes Mal durch, und manche machten einen Spaziergang am Fluss inklusive einem Sprung ins kühle Nass. Samstags war es dann so weit: Die Prüfung. Vier Aufgaben. Konzentration, Ablenkung. Ideen, Trugschlüsse. Hoffnung, Zweifel. Und dann Abgabe. Fünf Stunden verstreichen bisweilen erstaunlich schnell, und am Nachmittag hatten wir Zeit, um uns vor der nächsten Prüfung, dem Teamwettbewerb, zu erholen. Unser Team diskutierte die Aufgaben, spielte Tichu und wartete. Sonntags fand der Teamwettbewerb statt, nochmals eine Prüfung, doch dieses Mal konnten wir das Leid mit den Teammitgliedern teilen. Die acht gegebenen Aufgaben wiesen wir nach Themen denen zu, die es zu versuchen wagten, und wenn uns der Kopf vor Anstrengung qualmte, der Ansatz nichts ergab oder sich die Beweisführung als Kreisschluss herausstellte, konnten wir zur Abwechslung überprüfen, ob die Früchte der anderen wirklich zu 100% richtig waren. „Mens sana in corpus sana“ sagt man, (oder schreibt man, um intelligent zu wirken) und nach den mentalen Anstrengungen war den meisten eine Alternative recht, deshalb wurde ein kleines Sportturnier durchgeführt. Ursprünglich wäre geplant gewesen, dass aus den sechsköpfigen Teams aus zehn Ländern zehn Mannschaften zu je sechs Spielern verschiedener Nationalität gebildet werden, aber leider schien es, dass manch einer sich nicht zutraute, sich auch noch körperlich schwer zu belasten. Trotzdem wurden die Spiele, teilweise mit unterbesetzten Teams, in den Disziplinen Fussball, Basketball, Volleyball, Brennball und Frisbee durchgeführt. Viele Teilnehmer erwiesen sich als sehr sportlich – oder zumindest sportlicher als ich, was, zugegebenermassen, nicht so viel heissen muss. Für die Teilnehmer war der anstrengende Teil nun vorbei. Man hatte gegeben, was man geben konnte und es blieb allenfalls noch, um seinen eigenen Erfolg zu bangen. Für die Leader der Teams fing die Arbeit erst richtig an: sie durften unsere Produktionen auf Richtigkeit überprüfen. Um die Wartezeit zu überbrücken und um den Umstand zu nützen, dass man sich in einem exotischen Land aufhielt, wurden wir mathematisch begabten Touristen auf eine Rundfahrt geschickt, um die Schokoladenseite der Schweiz kennen zu lernen. Dazu studierten wir – was auch sonst – eine Schokoladenfabrik, das Maison de Cailler. Nach der Degustationshalle hatten alle noch Appetit auf Mittagessen, das wir in einem idyllischen, bewaldeten Tal in der Natur unweit davon verzehrten. Danach wurden wir losgeschickt, um auch die Käseseite der Schweiz zu entdecken, und zwar – Sie haben es erraten – die Produktionsstätte des Gruyère. Nach der kulinarischen Reise wurden wir zurückgebracht, nur um zu erfahren, dass die Leader noch nicht willig waren, uns die Resultate zu nennen. Den ungeheuren Schmerzen zu Trotz, dass ich einen weiteren Tag in dieser fremden Umgebung statt daheim in der Schule verweilen musste, schloss ich mich dem Programm für den Dienstag an. Dieses Mal führte uns der Reisecar nicht in einen der Stützpunkte, der das Land mit Nahrungsmitteln versorgt, sondern in jenen Stützpunkt, den das Land mit Politikern versorgt – wir besuchten die Hauptstadt Bern. Zu erschüttert von den Geheimnissen über Solothurn, in die wir unfreiwillig eingeweiht wurden, konnten wir es nicht wagen, auch durch Bern geführt zu werden, darum wurde die Stadt auf eigene Faust erforscht. Viel kann ich euch darüber nicht berichten, denn ich gehörte zu der Gruppe, die einen lokalen Park auf die Eignung als Tichu-Austragungsort untersuchte. Zuletzt besuchten wir die Einstein- Ausstellung im Museum, posierten für das Gruppenfoto und kehrten nach Solothurn zurück. Nochmals wurde uns die Käseseite der Schweiz präsentiert, diesmal aber nicht nur vor Augen sondern auch in den Mund geführt: vor der Präsentation der Resultate gab es ein festliches Raclette- Essen in einem Stall. Dann konnte man uns nicht mal mehr mit gutem Essen ablenken und wir wollten die Ergebnisse erfahren. Normalerweise sollte es unter den 60 Teilnehmern 30 Medaillen geben: 5 Gold, 10 Silber und 15 Bronze. Die Prüfungen schienen aber dieses Jahr aussergewöhnlich schwierig gewesen zu sein, denn es wurden nur zwei Goldmedaillen vergeben, weil zwischen dem zweiten und dritten Platz eine grosse Punktdifferenz bestand. Die logische Konsequenz war, dass die Medaillenplätze bis zu den unteren Punktzahlen herabsanken, sodass auch ich eine Bronzemedaille ergattern konnte. Medaille oder nicht, die Stimmung war heiter und jeder feierte, denn nun herrschte keine Rivalität mehr zwischen den Ländern, man gratulierte zu Erfolgen, plauderte über Mathe und die Welt oder stürzte sich auf das Dessert- und Getränkebuffet. Wer am nächsten Tag früh abreisen musste, kehrte früher zur Herberge zurück, das Schweizer Team, das erstaunlicherweise erst sehr spät abreisen musste, blieb bis zum Schluss. Und dann war aber leider wirklich schon Schluss. Am nächsten Tag verabschiedeten sich die Teams und einer nach dem anderen reiste ab. So packte, das heisst stopfte, auch ich meine Sachen in die Tasche und kehrte von der MEMO 2012 zurück.